Anfrage: Gulaschkanonen und Versammlungsfreiheit

Anfrage zur Beantwortung in der Ratsversammlung am 13. Dezember 2023

In jüngerer Vergangenheit wurden mehrfach Versammlungen dahingehend beauflagt, dass keine Nahrungsmittelausgabe im Rahmen dieser erfolgen darf. Dies betraf zuletzt auch Streiks, die in rechtlicher Hinsicht als Versammlung zu werten sind, u.a. von ver.di. Außerdem ist es bereits vorgekommen, dass Versammlungsanmeldungen von Streiks vorab öffentlich bekannt gemacht wurden.

Im dazugehörigen Versammlungsbescheid wird zwar ausgeführt, warum aus Sicht der Versammlungsbehörde die Versorgung mit Essen den Versammlungszweck nicht tangiert und daher nicht zwingend zur Meinungsbildung gehört. Es wird jedoch nicht begründet, inwiefern dadurch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht. Diese ist aber gemäß § 15 Sächsisches Versammlungsgesetz Voraussetzung für die Verhängung von Auflagen.

Ferner weisen wir darauf hin, dass der Einsatz von Gulaschkanonen (mobile Feldküchen) bei Streiks für deren öffentliche Darstellung geradezu konstitutiv ist, da es sich dabei um das klassische Symbol von streikenden Gewerkschaften handelt, die darüber hinaus seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Einsatz kommen. Gerade die Essensausgabe in Rahmen von Streiks wird dabei als Ausdruck der handelnden Solidarität mit den Streikenden und deren Anliegen verstanden. Es ist nicht die Aufgabe der Versammlungsbehörde, mit dem Verweis auf naheliegende Versorgungsmöglichkeiten mit Nahrungsmitteln die Gewinnerwartung von Händler*innen zu schützen. Umso weniger erschließt sich hier die Untersagung. Auch wurden Streiks in der Vergangenheit beauflagt, nur auf dem Fußweg eine Kundgebung durchführen zu dürfen. Auch dies steht im Widerspruch zu anderen Fällen, bei denen es möglich ist, dass allmontäglich mitunter nur 50 Personen beanspruchen dürfen, eine Ringrunde auf der Fahrbahn zu laufen.

Die Versammlungsfreiheit, die immer auch zu Einschränkungen von anderen führt, ist konstitutiv für die Demokratie. Jedwede Einschränkung muss besonders sorgfältig geprüft und begründet werden und hat daher sehr strenge Voraussetzungen.

Wir fragen daher an:

1. Welche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sieht die Versammlungsbehörde bei der Ausgabe von Essen im Rahmen von Versammlungen und welche milderen Mittel liegen aus Sicht der Versammlungsbehörde zur Behebung dieser Gefahr vor?

2. Wie beurteilt die Versammlungsbehörde die Gulaschkanone in Bezug auf Streiks und die Geschichte des Streikrechts in der Bundesrepublik Deutschland?

3. In wie vielen Fällen wurde bislang die Ausgabe von Speisen im Rahmen der Versammlung untersagt und wie viele Klagen sind deswegen ggf. anhängig?

4. Ist der Versammlungsbehörde die Rechtsprechung zur Frage der Ausgabe von Nahrungsmitteln im Rahmen von Versammlungen bekannt und falls ja, warum kommt die Versammlungsbehörde trotzdem zu einer anderen Entscheidung?

5. Wie wird mit Versammlungsanmeldungen in der Öffentlichkeitsarbeit umgegangen? Teilt die Stadtverwaltung die Ansicht, dass bei Streiks eine Vorabveröffentlichung der Kerndaten den Zweck der sich Versammelnden unterläuft?

 

Antwort der Stadtverwaltung

1. Welche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sieht die Versammlungsbehörde bei der Ausgabe von Essen im Rahmen von Versammlungen und welche milderen Mittel liegen aus Sicht der Versammlungs-behörde zur Behebung dieser Gefahr vor?

Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit will das ungehinderte Zusammenkommen mit anderen Menschen zum Zweck der gemeinsamen Meinungsbildung und Meinungsäußerung (kollektive Aussage) schützen. Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. Das Grundrecht schützt die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind.

Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG und damit auch des Versammlungsgesetzes sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Entscheidend ist, dass die Meinungsbildung und     -äußerung mit dem Ziel erfolgt, auf die Öffentlichkeit entsprechend einzuwirken. Die Erörterung und Kundgebung muss in Angelegenheiten erfolgen, die zur öffentlichen Meinungsbildung bestimmt und geeignet sind. Der Schutz der Versammlungsfreiheit umfasst nicht nur das gewählte Thema der Veranstaltung, sondern auch die Entscheidung, welche Maßnahmen der Veranstalter zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sein Anliegen einsetzen will. Die vom Versammlungsrecht geschützten Veranstaltungen sind nicht auf Zusammenkünfte traditioneller Art beschränkt, sondern umfassen vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens (zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 - 6 C 23.06 - juris Rn. 15, m.w.N.).

Art. 8 Abs. 1 GG schützt auch infrastrukturelle Ergänzungen der Versammlung in Form von Informationsständen, Sitzgelegenheiten, Imbissständen oder auch Zelten, sofern sie funktional-versammlungsspezifisch eingesetzt werden. Infrastrukturelle Begleiteinrichtungen einer Versammlung sind damit nicht in jedem Fall dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit zuzuordnen.

Dies ist vielmehr nur dann anzunehmen, wenn die jeweils in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional, symbolisch oder konzeptionell im Sinne der konkreten kollektiven Meinungskundgabe notwendig sind. Ob bestimmte Gegenstände oder infrastrukturelle Einrichtungen, die von den Veranstaltern der Versammlung zur Durchführung der Versammlung als notwendig erachtet werden, in diesem Sinne unmittelbar versammlungsbezogen sind, ist von der Versammlungsbehörde nach einem objektiven Maßstab im Einzelfall zu beurteilen. Grundlage für diese Beurteilung ist das Vorbringen der Veranstalter. Sie legen gegenüber der Versammlungsbehörde dar, welche Gegenstände sie zur Durchführung der Versammlung in der geplanten Form benötigen. Auch bei der Entscheidung darüber, ob überhaupt eine Versammlung vorliegt, richtet sich die rechtliche Beurteilung danach, ob sich die Veranstaltung aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters als Versammlung darstellt und ob der Veranstalter sein Konzept schlüssig dargelegt hat (zum Ganzen: OVG NW, Beschluss vom 16. Juni 2020 -     15 A 3138/18 - juris Rn. 56 ff.).

Aus Sicht der Versammlungsbehörde, die im Übrigen auch seitens der Rechts- und Fachaufsicht getragen wird, sind natürlich auch infrastrukturelle Begleiteinrichtungen einer Versammlung dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit zuzuordnen, wenn sie zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional, symbolisch oder konzeptionell im Sinne der konkreten kollektiven Meinungskundgabe notwendig sind. Der Gebrauch von Infrastruktur (Tische, Stühle, Bänke, Infotische, Pavillons, Gulaschkanone etc.) ist grundsätzlich nicht versammlungsimmanent. Das heißt, dass alles, was nicht funktional der Verwirklichung des Versammlungsgrundrechtes dient, einer besonderen Sondernutzungs-erlaubnis der jeweils örtlich zuständigen Behörde bedarf. Diese Sondernutzungserlaubnis wird auf Antrag auch regelmäßig erteilt.

Mit einem Einsatz einer in Rede stehenden Gulaschkanone soll aus hiesiger Sicht durch den Veranstalter eine möglichst optimale Rahmenbedingung für die Teilnehmenden geschaffen werden. Für den objektiven Betrachter ist eine Gulaschkanone nach außen hin „meinungsneutral“. Sie dient lediglich einer Versorgung von Teilnehmenden und weist keinen inhaltlichen Bezug zur bezweckten Meinungskundgabe auf oder ist für eine konkrete Veranstaltung logistisch erforderlich.

Längerfristige Klimacamps können im Gegensatz zu zeitlich kurz befristeten Versammlungen unter freien Himmel ohne die in Rede stehenden Infrastruktureinrichtungen nicht durchgeführt werden. Andere Versammlungen über einen kurzen Zeitraum (z. B. am 22.02.2023 in der Zeit von 07:30 Uhr bis 09:30 Uhr) schon. Dies ist hier der Fall.

Aber auch bei kurzzeitlichen Versammlungen wird durch die Versammlungsbehörde stets der Einzelfall betrachtet. Wenn keine anderen Versorgungsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe existent sind (z. B. Streikhandlungen vor Amazon in der Torgauer Straße), werden derartige Versorgungseinrichtungen natürlich zugelassen.

2. Wie beurteilt die Versammlungsbehörde die Gulaschkanone in Bezug auf Streiks und die Geschichte des Streikrechts in der Bundesrepublik Deutschland?

Insofern wird auf die Beantwortung der Frage 1 verwiesen. Auch nach intensiver Netzrecherche konnte nicht dezidiert ergründet werden, dass der Einsatz von Gulasch-kanonen bei Streiks für deren öffentliche Darstellung geradezu konstitutiv ist.

Mit der Verfahrensweise der Versammlungsbehörde wird letztlich auch nicht verhindert, dass eine Gulaschkanone zum Einsatz kommen kann. Zumindest – unter Hinweis auf vorangegangene Erläuterungen – nicht als Kundgebungsmittel, sondern in Form einer wenngleich kostenpflichtigen Sondernutzungserlaubnis.

3. In wie vielen Fällen wurde bislang die Ausgabe von Speisen im Rahmen der Versammlung untersagt und wie viele Klagen sind deswegen ggf. anhängig?

Derzeit sind keine Klagen anhängig. Lediglich sind zwei Widerspruchsverfahren anhängig, die sich gegen Kostenentscheidungen nach der Gebührenordnung zur geltenden Sondernutzungssatzung für Sondernutzungserlaubnisse für Gulaschkanonen richten.

4. Ist der Versammlungsbehörde die Rechtsprechung zur Frage der Ausgabe von Nahrungsmitteln im Rahmen von Versammlungen bekannt und falls ja, warum kommt die Versammlungsbehörde trotzdem zu einer anderen Entscheidung?

Zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Infrastruktur sind der Versammlungsbehörde Rechtsprechungen geläufig, die nachfolgend beispielhaft aufgelistet werden:

BVerfG (K), 1 BvR 1387/17 v. 28.6.2017 = NVwZ 2017, 1374 ff. (Protestcamp G 20 in Hamburg); BVerfG (K), 1 BvQ 94/20 v. 30.8.2020 = NVwZ 2020, 1508 ff. (Anti-Corona-Maßnahmen-Dauermahnwache); BVerwG, 6 C 46/16 v. 25.10.2017 = BVerwGE 160, 169 ff. (Protestcamp G 8 in Heiligendamm); BVerwG, 6 C 23/06 v. 16.5.2007 = BVerwGE 129, 42 ff.; BVerwG, 6 C 9.20 v. 24.5.2022 = BVerwGE 175, 346 ff. ("Klima-Protestcamp"); OVG Bautzen, 3 BS 257/01 v. 9.11.2001 = NVwZ-RR 2002, 435 f. (Versammlungszelt); OVG Berlin, 1 SN 63.99 v. 8.7.1999 = LKV 1999, 372 f. (Imbissstand); OVG Bremen, 1 B 215/21 v. 4.5.2021 = NordÖR 2021, 537 ff. (sanitäre Einrichtungen, Bühne und Zelte); OVG Lüneburg, 10 PA 53/23 v. 18.4.2023 = NdsVBl 2023, 310 ff. (Schlafzelte bei Dauermahnwache); OVG Magdeburg, 2 M 78/21 v. 2.7.2021 (Protestcamp im Wald); (VGH Mannheim, 1 S 1957/93 v. 16.12.1993 = NVwZ-RR 1994, 370 (Imbissstand); VGH München, 10 CS 12.1419 v. 2.7.2012 = BayVBl. 2012, 756 ff. (Versammlungszelt); VGH München, 10 B 14.2246 v. 22.9.2015 = NVwZ-RR 2016, 498 ff. (Aufstellen von "Pavillions" zum Ausruhen und Schlafen bei Dauerversammlung); OVG Münster 7 A 1668/15 v. 7.12.2016 = BauR 2017, 533 ff. (Protestcamp); OVG Münster, 7 A 2635/21 v. 16.6.2023 = NVwZ 2023, 1261 ff. (Baumhaus im Hambacher Forst); OVG Schleswig, 4 MB 33/22 v. 12.9.2022 = NordÖR 2022, 551 ff. (Protestcamp); VG Berlin, 1 A 191/99 v. 25.6.1999 = LKV 1999, 373 ff.; VG Berlin, 1 A 361.03 v. 23.12.2003 = NVwZ 2004, 761 (Versammlungszelt); VG Frankfurt a. M., 5 L 2558/12 v. 6.8.2012 = NVwZ-RR 2012, 806 ff. (für Campingausrüstungen der "Occupy-Bewegung"); VG Bremen, 5 V 807/21 v. 28.4.2021 = KommJur 2021, 222 ff. (sanitäre Einrichtungen, Bühne und Zelte); VG Meiningen, 2 E 113/16 v. 14.4.2016 = ThürVBl. 2018, 43 ff.; Eibenstein, JA 2023, 764 ff.; Fischer, NVwZ 2022, 353 ff.; Hartmann, NVwZ 2018, 200 ff.; Honer, DÖV 2023, 753 ff.; Röhrer, NVwZ 2022, 1690 ff.;

Im Ergebnis wird festgestellt, dass die Mehrzahl der bekannten gerichtlichen Entscheidungen die Infrastruktur von Klimacamps zum Inhalt hat. Der Versammlungsbehörde vorliegende Versammlungsanzeigen haben Klimacamps nicht zum Inhalt. Ein Abweichen der Verfahrensweise der Versammlungsbehörde unter Hinweis auf analoge Rechtsprechungen wird vorliegend nicht erkannt. Im Weiteren wird auf die Beantwortung der Frage 1 verwiesen.

5. Wie wird mit Versammlungsanmeldungen in der Öffentlichkeitsarbeit umgegangen? Teilt die Stadtverwaltung die Ansicht, dass bei Streiks eine Vorabveröffentlichung der Kerndaten den Zweck der sich Versammelnden unterläuft?

Seitens der Versammlungsbehörde werden bei angezeigten Streikversammlungen keine Kerndaten an die Öffentlichkeit gegeben, da damit der Zweck des Streiks unterlaufen wird.

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